Angst und die Grenzen der Realität
Ich hatte in einem früheren Kapitel über die Erkenntnisse aus dem Erkenntnisprozess folgendes behauptet:
"Die negativen Zukunftsprojektionen stellen sich als falsch heraus"
Das hat losgelöst vom Erkenntnisprozess so pauschal natürlich keine Allgemeingültigkeit. Es gilt in dieser Form ausschließlich nur bezogen auf den Kontext eines konkret ablaufenden Erkenntnisprozesses, welcher als Reaktion auf ein unlösbares Problem initiiert wird.
Ganz allgemein betrachtet ist die Aufgabe negativer Zukunftsprojektionen, dem "Ich" die Grenzen der Realität anzuzeigen, die es nicht überschreiten sollte, z.B.:
- "Verhalten X führt zu einer Beschädigung der Lebensumstände" (körperliche Verletzungen, Gesetzeskonflikte, soziale Schäden)
- "Verhalten Y hat keine Erfolgsaussichten" (und ist damit eine sinnlose Energieverschwendung)
In dieser Funktion haben negative Zukunftsprojektionen eine positive Schutzfunktion. Aber da negative Zukunftsprojektionen auch aus einer Weltsicht erwachsen können, welche die Grenzen der Realität falsch abbildet, können sie eben falsch sein.
Entsprechend den zwei Arten von Problemen, die im Erkenntnisprozess gelöst werden, gibt es auch zwei Arten der Auflösung von negativen Zukunftsprojektionen:
- Eine negative Zukunftsprojektion ist komplett falsch und das wird im Erkenntnisprozess erkannt.
- Eine negative Zukunftsprojektion bezieht sich auf ein ungelöstes Problem. Wenn die Lösung des Problems erkannt wird, verliert sie ihre Relevanz.
Hier geht es jetzt aber um etwas anderes, aufbauend auf das Thema des letzten Kapitels "Das richtige Maß":
Dieses "eine Zukunftsprojektion stellt sich als falsch heraus" bedeutet in vielen Fällen kein "absolut falsch", sondern eher eine Verschiebung der Grenzen: Die Weltsicht hatte die Grenzen zu eng oder zu weit gezogen und der Erkenntnisprozess verschiebt die Grenze an ihren tatsächlichen Platz zurück.
Die Grenze, welche durch eine negative Zukunftsprojektion angezeigt wird, ist dann nicht absolut falsch, sondern sie ist nur so verschoben, dass sie das Verhalten auf eine übertriebene Weise einengt. An einer anderen Stelle existiert die Grenze aber ganz real und muss auch Beachtung finden.
Die richtige Lokalisierung von Grenzen der Realität ist eine Anwendung der Fähigkeit, mit der inneren Wahrnehmung "das richtige Maß" zu finden. Das bedeutet auch, die richtige Lokalisierung der Grenzen der Realität ist in vielen Fällen auf rein rationalem Wege nicht möglich. Sie ist eine der Hauptaufgaben der inneren Wahrnehmung.
Das führt uns zum Thema "Angst":
Angst ist ein emotionaler Zustand, der im Angesicht einer negativen Zukunftsprojektion eine Verhaltensänderung herbeiführen soll. Anders gesagt soll Angst einen Menschen davon abhalten, die Grenzen der Realität zu seinem Schaden zu überschreiten.
Wenn Angst eine unnötige Verhaltenseinschränkung bewirkt, dann wurde die Grenze durch die Weltsicht zu eng gesteckt.
Da das sehr abstrakt ist, dazu ein Beispiel:
Eltern haben Angst, dass ihrem Kind etwas geschieht. Diese Angst hat einen realen Bezug, aber sie kann übertrieben auftreten. Der reale Bezug ist, dass das Verhalten von Kindern durch die Eltern in einem gewissen Maße eingeschränkt werden muss, weil bei Kindern die eigene Einschätzung ihrer Grenzen noch nicht zuverlässig funktioniert.
Aber wo genau verläuft diese Grenze? Was kann man seinem Kind in welchem Alter erlauben und was muss man als Eltern verhindern?
Das ist genau eine dieser Fragen, die rein rational kaum lösbar sind. Wenn die Angst übertrieben auftritt, dann schränken Eltern das Verhalten ihrer Kinder zu stark ein und blockieren damit die Entwicklung ihrer Kinder. Setzen die Eltern andererseits dem Verhalten ihrer Kinder gar keine oder zu weitgesteckte Grenzen, dann drohen Unfälle und Verletzungen.
Wenn zum Beispiel Eltern ihr 10-jähriges Kind nicht auf Klettergerüste lassen, weil sie Angst haben, es könnte herunterfallen, dann ist es eine übertriebene Angst. Aber wie ist es bei einem 2-jährigen Kind? Und was ist das richtige Alter für welche Form von Klettergerüst?
Dort wo übertriebene Ängste auftreten, scheinen die intuitiven Kriterien für das richtige Maß nicht vorhanden zu sein (Intuition = Komponente der inneren Wahrnehmung).
Tatsächlich aber ist es auch im Fall übertriebener Ängste nicht so, dass die Informationen für das richtige Maß nicht da wären, sondern sie sind überlagert vom Versuch einer rationalen Lösung. Das in der Theorie zu wissen, hilft natürlich nicht weiter, wenn eine übergroße Angst als alles überdeckendes Gefühl verhindert, dass Eltern ihrem Kind die nötige Freiheit geben. In diesem Fall muss der Erkenntnisprozess auf die Überwindung einer übertriebenen Angst angewandt werden:
- Zunächst muss man sich klar machen, dass die Information über die Übertreibung einer Angst dem Betroffenen jederzeit zugänglich ist. Er nimmt die Information nur nicht ernst bzw. vertraut ihr nicht.
- Darüber hinaus ist die Information nicht nur über die innere Wahrnehmung zugänglich, sondern auch durch die "äußeren" negativen Konsequenzen, welche die Übertreibung einer Angst immer mit sich bringt.
- Wenn man sich entscheidet, "sich einer übertriebenen Angst zu stellen", dann bedeutet das, die Verhaltenseinschränkung aufzugeben, welche bisher durch die Angst ausgelöst wurde. Man kehrt zu dem Verhalten zurück, wie es wäre, wenn es nicht durch die übertriebene Angst eingeschränkt würde. Das entspricht dem Einstellen des Aktionismus auf ein Problem ohne Lösung. Bei einer Angst bedeutet das, die übertriebene Angstreaktion einzustellen. Verallgemeinert würde man sagen: "die Verhaltensreaktion auf eine negative Zukunftsprojektion einstellen und zu dem Verhalten zurückkehren, wie es ohne die negative Zukunftsprojektion wäre".
- Dadurch erfolgt die volle Konfrontation mit der negativen Zukunftsprojektion. Die Psyche wird in einen Widerspruch hineingeführt, den sie normalerweise unter absolut allen Umständen meiden würde.
- Das löst eine Reihe negativer emotionaler Prozesse aus. Diese Prozesse sollten möglichst ungehindert und ohne Blockaden ablaufen können.
- Wenn die Angst tatsächlich eine übertriebene Angst ist, dann löst sie sich in diesem Prozess irgendwann vollständig auf. Sie verschwindet komplett aus dem Leben. Man kann auf diese Weise von übertriebenen Ängsten vollständig frei werden.
Aber was ist, wenn man sich geirrt hat und die Angst ist gar nicht übertrieben, sondern man versucht den Erkenntnisprozess auf eine echte Angst anzuwenden und damit eine tatsächliche Grenze der Realität zu überschreiten?
Dann wächst die Angst immer weiter. Sie wächst ins absolut Unermessliche. Sie wächst so lange, bis man in aller Klarheit weiß "Da geht es nicht lang."
Leider geschieht es recht häufig, dass Menschen tatsächlich echte Grenzen der Realität zu überschreiten versuchen und sich dabei ernste Schäden zuziehen. Das liegt daran, dass die Gefühle im Zustand der rationalen Isolation blockiert werden. Aber im Erkenntnisprozess erfolgt ja gerade eine Öffnung für die Gefühle. Der Erkenntnisprozess besteht in seinem Kern in der vollen Konfrontation mit Gefühlen, die man normalerweise meiden würde.
Wenn die Gefühle im Fluss sind, ist es nahezu unmöglich eine echte Grenze der Realität zu seinem Schaden zu überschreiten. Das ist vielmehr eine negative Konsequenz der rationalen Isolation.
Eine unechte oder übertriebene Angst fühlt sich deutlich anders an, als eine echte Angst. Das sicher unterscheiden zu lernen, ist Teil des Entwicklungsprozesses der nicht-rationalen Teile der menschlichen Psyche. Je aktiver die nicht-rationalen Teile der Psyche werden, um so sicherer lernt man echte von unechten Ängsten zu unterscheiden.
Ein wesentliches Merkmal der menschlichen Existenz ist ein "gepufferter Grenzbereich". Die Grenzen der Realität sind nicht wie eine dünne Linie, sondern es gibt einen Grenzbereich, in dem man sich bewegen kann. Man kann lernen, sich im Angesicht seiner Angst im Grenzbereich sicher zu bewegen und Grenzen auszutesten ohne sie zu überschreiten. Dabei dient die entwickelte innere Wahrnehmung im Zusammenspiel mit dem Gefühl der Angst als eine Art Kompass.